Man nennt Sie die Mutter der nachhaltigen Entwicklung – wie gefällt Ihnen dieser Titel?

Zunächst einmal treibt mich meine eigene Überzeugung an, dass diese Fragen von grundlegender Bedeutung für die Welt sind. Es ist nicht wichtig, wie man mich charakterisiert, obwohl ich diesen Titel nicht ablehne. Vielleicht kann es manchmal sogar helfen, weil es die Leute zum Zuhören bringt! Das ist hilfreich, wenn Sie kommunizieren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Veränderung fällig ist. Es ist also meine innere Stimme, die mich antreibt, die Arbeit mit The Elders fortzusetzen.

Wie definieren Sie Verantwortung in Bezug auf nachhaltige Entwicklung?

Die Definition, auf die ich mich in jeder meiner Reden beziehe, lautet: Wir sind alle verantwortlich, jede und jeder Einzelne. Jeder ist  Teil der Lösung, unabhängig davon, ob als Geschäftsfrau oder -mann, ob Ihnen die Macht als Entscheidungsträger übertragen wurde oder ob Sie in einer anderen Funktion tätig sind. Die Verantwortung gehört allen. Dies ist eine grundlegende demokratische Beurteilung.

Um die Grundlage für Veränderungen zu schaffen, ist es wichtig, dass die Menschen gebildet, bewusst und daran interessiert sind, was sie als Individuen tun können.

Das gilt für uns alle. Aber natürlich gilt zusätzlich zu dieser allgemeinen Aussage: Je mehr Macht und Möglichkeiten Sie haben - desto größer ist Ihre Verantwortung.

Besuch der Mae-Tao-Clinic in Myanmar ©The Elders

Wenn Sie sich die Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Welt anschauen - sind Sie zufrieden?

Ich habe aus erster Hand gesehen, dass der Durchbruch größer und tiefer war, als wir hätten voraussehen können. Es sind so viele Dinge geschehen. Ich habe den Wandel vorangetrieben, und gleichzeitig habe ich gesehen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung bewegt haben. Aber ich habe auch viele Rückschläge erlebt und wurde enttäuscht.  Die Dinge sind immer langsamer vorangegangen, als wir es uns gewünscht hätten.

Der sogenannte Brundtland-Bericht erschien vor 28 Jahren, und seitdem sind einige Meilensteine erreicht worden. Zum Beispiel im Jahr 2015, als die Welt sich sowohl auf die Ziele der nachhaltigen Entwicklung als auch auf das Pariser Klimaabkommen einigte. Das ist eine große Leistung, wenn man bedenkt, dass die UNO 193 Mitgliedsstaaten mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand und kulturellem Hintergrund hat. Vielleicht ist es nicht überraschend, dass es 28 Jahre dauern sollte, um diesen Punkt zu erreichen.

Bin ich zufrieden? Die Antwort ist ja. Ich war ungeduldig, aber ich habe auch immer meinen Optimismus bewahrt, weil ich gesehen habe, wie die Dinge langsam vorankommen und mehr Menschen aufmerksam geworden sind.

Als Mitgled von The Elders unterwegs in ©Agoes Rudianto/The Elders

Welches Nachhaltigkeitsziel liegt Ihnen besonders am Herzen?

Für mich ist nachhaltige Entwicklung das breite Dach und Klimafragen sind ein wichtiger Teil davon. Ich habe mich persönlich stark für die Themen Gesundheit und Gleichstellung von Frauen eingesetzt.

Aber es gibt ein konkretes Ziel, auf das ich mich konzentriere: die Abschaffung der Kinderheirat bis 2030. Das ist für mich und für uns von The Elders besonders wichtig. Im Jahr 2010 haben wir beschlossen, das Thema Kinderheirat weiter zu verfolgen, weil es in der globalen Diskussion in Vergessenheit geraten ist. Abermillionen von Mädchen werden jedes Jahr als 10-Jährige gefangen genommen und mit 13 Jahren Mütter. Das ist eine Verletzung der Rechte von Mädchen und Frauen. Natürlich sind auch einige Jungen betroffen, aber vor allem Mädchen.

Aber es ist uns gelungen, ein Bündnis gegen Kinderheirat zu bilden und dieses Thema als eines der Unterziele von Ziel 5 zu definieren.

Welche Rolle spielen Unternehmen beim Erreichen der Ziele?

Im letzten Jahrhundert hieß es immer, dass Umweltthemen Gleichberechtigung, soziale Fragen und Klimafragen von den Regierungen zu lösen seien. "Wir sind Unternehmen, und unsere Verantwortung besteht darin, auf das Endergebnis zu achten". Das war der Gedanke, und so diskutierte man bis weit in die 90er Jahre hinein.

Brundtland bei einer ihrer unzähligen Reden vor den UN
Heute würde es niemand mehr wagen, so etwas zu sagen, denn das Szenario und die Denkweise haben sich geändert. Unternehmen tragen eine große Verantwortung, und je innovativer sie werden und den Weg zum Wandel weisen, desto besser.

Welche Rolle sollte die Zivilgesellschaft spielen?

Auf die Frage "Was kann ich tun"? kann ich natürlich unterschiedliche Perspektiven anbieten. Aber eines bleibt grundlegend: Jeder kann etwas tun! Entwickeln Sie Interesse für eines der vielen Themen!

Mit dem Internet und den sozialen Medien gibt es jetzt noch größere Möglichkeiten, sich für Veränderungen zu engagieren. Mit Ihrem eigenen Engagement können Sie Teil der Lösung sein. Sie können einen Unterschied machen. Ganz gleich, ob Sie in einer politischen Partei mitmachen oder ob Sie sich entscheiden, sich mit den Menschen zu vernetzen, die sich für die Abschaffung der Kinderheirat, die Rechte der Frauen, die Arbeit an Solarenergie, CO2-Emissionen oder Verkehrslösungen einsetzen.

Für mich ist es eine ethische Verantwortung, sich zu engagieren. Als Individuum hat man die Wahl. Es gibt so viele Themen, die gefördert werden müssen. Wofür auch immer Sie sich entscheiden, Sie können einen gewissen Unterschied machen.Engagieren Sie sich. Engagieren Sie sich für etwas, das für die Zukunft, für die Gesellschaft und für die Welt relevant ist.

Liebe Frau Dr. Brundtland, wir danken Ihnen für das Gespräch.