Andriy Lohin ist sich sicher: Mit Beginn der kalten Jahreszeit wird die Zahl ukrainischer Flüchtender erneut steigen. Schon jetzt verzeichnet die Region Lviv (Lemberg) im Westen der Ukraine mehr als 240.000 Binnenver- triebene. Allein die Stadt Lviv – sie gilt als zentrale Anlaufstelle – zählte schon vor dem Krieg gut 700.000 Einwohner:innen. Kein Wunder also, dass auch das katholische Sheptytsky-Spital seit Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar vor großen Herausforderungen steht. Andriy Lohin ist Direktor des Krankenhauses und Priester der griechisch-katholischen Kirche.

MEDIZINISCHE EINRICHTUNGEN ÜBERLASTET

Bereits vor dem russischen Überfall reichten Angebot und Qualität der medizinischen Versorgung in der Westukraine nicht aus. Seitdem hat sich die Lage deutlich verschlechtert: In der Ost- und Südukraine wurden zahlreiche medizinische Einrichtungen zerstört, medizinisches Personal verließ das Land oder wurde für den Dienst an der Front eingezogen. Da die verarmte Bevölkerung weniger Geld zur Verfügung hat, um – wie allgemein üblich – privat für ärztliche Behandlungen zu zahlen, wurden viele medizinische Einrichtungen geschlossen. Folglich sind die bestehenden Einrichtungen im Westen der Ukraine völlig überlaufen: Binnenvertriebene sowie die ortsansässige Bevölkerung suchen dort Hilfe. Hinzu kommt, dass die an der Front verwundeten Soldat:innen und evakuierte Zivilist:innen aus den Kriegsgebieten ebenfalls in der Westukraine versorgt werden.

In der Klinik in guten HÄnden: Ukrainerin und Tochter © Molnar, privat

„Entscheidend ist es daher, die noch intakte Infrastruktur aufrechtzuerhalten, um die medizinische Versorgung der Menschen zu sichern“, betont die Ukraine-Referentin bei Renovabis, Theresa Grabinger. „Dabei leisten wir finanzielle Unterstützung.“ Seit Gründung des katholischen Osteuropa-Hilfswerks im Jahr 1993 gehört die Ukraine zu den wichtigsten Projektförderländern von Renovabis. Die in dieser Zeit gewachsenen „guten Drähte“ zu den Ansprechpartner:innen im Land sorgen nun dafür, dass die Hilfsgelder von Renovabis über Mitarbeitende von gemein- nützigen Organisationen, über Pfarrgemeinden, Geistliche und Ordensleute vor Ort schnell und direkt weitergeleitet werden können. Zu den Empfänger:innen der Nothilfe zählen die, die im Land geblieben sind oder bleiben mussten: alte, kranke und wohnungslose Menschen oder solche, die ihre Heimat aus finanziellen Gründen nicht verlassen konnten. Hinzu kommen all diejenigen, die auf der Flucht sind.

DIE VERSORGUNG SICHERN

„Wir verwenden die Hilfsgelder dafür, dass die Menschen verpflegt, betreut und untergebracht werden können – auch in den Nachbarländern der Ukraine wie Polen, der Republik Moldau, Rumänien, Russland, der Slowakei und Ungarn“, so Grabinger. Mehr als neun Millionen Euro hat Renovabis bislang an finan- ziellen Mitteln bereitgestellt – im Land selbst, aber auch in den genannten Nachbarstaaten. „Auch wenn die Nothilfe nach wie vor überwiegt und ihr weiterhin eine entscheidende Rolle zukommt, spielen bei uns zunehmend Gedanken eine Rolle, wie wir die Menschen in der Ukraine künftig finanziell unterstützen können“, macht Renovabis-Chef Pfarrer Prof. Dr. Thomas Schwartz deutlich (siehe Kasten „Grundlagen und Perspektiven der Projekthilfe von Renovabis in der Ukraine“).
(here or somewhere inbetween a quote:) „Wenn man mit den Menschen spricht, dann wird man demütig.“ Pfarrer Prof. Dr. Schwartz

Pfarrer Prof. Dr. Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer von Renovabis ©Renovabis Bildarchiv

An dieser Stelle kommt das Sheptytsky-Spital wieder ins Spiel. Bislang lag der Schwerpunkt der Arbeit darin, sofortige medizinische und psychologische Hilfe für Binnenvertriebene zu leisten und Transporte von Kranken aus kriegszerstörten Städten und Kliniken zu ermöglichen. Das Spital habe bislang rund 100 Tonnen an Medikamenten und Grundbedarfsartikeln in den Osten und Süden des Landes geliefert, so Klinikdirektor Lohin. Jetzt arbeitet man daran, die Zahl der angebotenen Leistungen zu erhöhen, um die staatlichen und kommunalen medizinischen Einrichtungen zu entlasten. „Deshalb haben wir Abteilungen für Chirurgie und Notfallversorgung eröffnet und sind dabei, Abteilungen für Ergotherapie und Physiotherapie einzurichten“, erklärt Lohin. Er verweist darauf, dass sich „glücklicherweise“ fast die gesamte Belegschaft des Hospitals entschieden habe, „in diesen schwierigen Zeiten zusammenzuhalten“. Nur ein Prozent der Beschäftigten des Spitals habe das Land verlassen. Nicht ohne Stolz betont er, dass die Klinik weiter wachse und derzeit mehr als 170 Menschen dort arbeiteten – davon 15 Prozent Binnenvertriebene. Aus dieser Gruppe kämen Hausärzt:innen, ein Chirurg, Psycholog:innen sowie medizinisches Personal aus Kyiv, Charkiw, Mariupol und anderen Städten der Ukraine.

Pfarrer Lohin ist Direktor des katholischen Spitals in Lviv ©Renovabis Bildarchiv

Sorgen bereiten dem Klinikdirektor dagegen die unsichere Versorgung mit Gas, das für die Beheizung des Spitals benötigt wird, sowie die steigende Zahl der Binnenvertriebenen und bedürftigen Menschen: „Ich weiß nicht, ob wir ausreichend Ressourcen – in menschlicher, materieller und mentaler Hinsicht – haben werden, um all diese Aufgaben bewältigen zu können.“ Er setzt deshalb weiterhin auf die Unterstützung von Partner:innen und Spender:innen aus dem Ausland. Auf Renovabis kann er dabei in jedem Fall zählen.

GRUNDLAGEN UND PERSPEKTIVEN DER PROJEKTHILFE VON RENOVABIS IN DER UKRAINE

1. Nothilfe und Integration von Binnenvertriebenen: Für viele Menschen in der Ukraine steht aktuell weiterhin und auf nicht absehbare Zeit das nackte Überleben im Vordergrund. Die Kriegshandlungen dauern an, ständig werden neue Menschen vertrieben und erfahren Verlust.
Daher nimmt die Nothilfe weiterhin eine bedeutende Rolle ein und wird entsprechend von Renovabis finanziert. Gleichzeitig fördert Renovabis Maß- nahmen, welche die Voraussetzungen für die sozioökonomische Integration der Binnenvertriebenen ohne Rückkehrperspektive schaffen sollen.

2. Aufbauhilfe und Infrastruktur: Wenn über Wiederaufbau gesprochen wird, stellt sich die Frage, an welchem Maßstab man sich orientiert.
Die Ukraine war auch vor dem massiven Überfall und den Zerstörungen durch die russische Armee ein Land „in der Entwicklung“ oder „im Aufbau“. Die Verkehrs-, Bildungs- und Sozialinfrastruktur befanden sich auf einem niedrigen Niveau, viele Reformen und Investitionsmaßnahmen waren erst eingeleitet worden. Statt von einem „Wiederaufbau“ sollte somit eher

über einen „Aufbau“ gesprochen werden. Dazu bedarf es einer Strategie. Ausganspunkt sollte dabei die Frage sein, welche Infrastruktur nötig sein wird, um einem riesigen Land mit vergleichsweise geringer Bevölkerungs- dichte, schwachen Verwaltungsstrukturen und vielen sozioökonomischen Schieflagen gerecht zu werden.

3. Zivilgesellschaft stärken: Für die Kirche steht der Mensch im Mittel- punkt. Was Renovabis als kirchliches Hilfswerk tun kann, ist, die ukrainische Zivilgesellschaft so weit zu stärken, dass sie sich an einem späteren (Wieder-) Aufbau-Prozess beteiligen kann. Renovabis leistet weiterhin Nothilfe, hält medizinische und Bildungsinfrastruktur aufrecht, entwickelt traumasensible psychologische Begleitangebote und baut die Kompetenzen seiner kleinen Partnerorganisationen auf, um gesellschaftliche Prozesse mitzugestalten.

Mitmachen:
Wenn auch Sie die Arbeit von Renovabis in der Ukraine und den Nachbarstaaten unterstützen möchten: Bitte überweisen Sie Ihre Spende mit dem Stichwort „Aktiv für die Ukraine“ auf das Konto bei der LIGA Bank eG, IBAN DE24 7509 0300 0002 2117 77. Vielen Dank!

Für Renovabis symbolisiert die abgeknickte Sonnenblume das Leid der Menschen im kriegsgezeichneten Land

Den Jahresbericht von Renovabis finden Sie unter www.renovabis.de/Jahresbericht.
Eine gedruckte Version kann über das Formular auf
Seite 26 bestellt werden oder über www.renovabis-shop