Liebe Kinder und Enkelkinder,

könnt ihr euch vorstellen, dass wir damals, als ich noch eine junge Frau war, vergessen hatten, dass auch ihr eines Tages auf unseren Planeten gut leben wollt (wir nannten das Nachhaltigkeit)? Dass wir unsere eigene Lebensgrundlage zerstörten, indem wir unsere Böden, die Luft, die Flüsse vergifteten, die Pflanzen und Tiere fast vollständig ausrotteten? Hättet ihr gedacht, dass wir Dinge produzierten, um sie wieder wegzuschmeißen oder zu verbrennen? Dass wir den Großteil unserer Lebenszeit mit Aktivitäten verbrachten, die uns unglücklich machten? Diese Welt war absurd. Sie machte uns Menschen und unseren Planeten krank.

Ausgerechnet ein Virus führte zu einem abrupten Stopp. Es unterbrach unser lautes und hektisches Leben.

Innerhalb weniger Wochen veränderte sich unser Leben dramatisch. Wir durften kaum noch unsere Wohnungen verlassen. Täglich schoss die Zahl der Todesopfer in die Höhe, ich bangte um das Leben meiner Großeltern, um die Gesundheit meiner Freunde und Freundinnen, Einnahmen zum Überleben brachen weg, viele von uns standen ohne Job da. „Zukunft“ wurde zu einer großen Unbekannten, die uns Angst machte. Und dabei befanden wir uns noch in einer vergleichsweise privilegierten Situation.

Es war die erste ernsthafte Krise, die ich so spürbar miterlebte. Statt aber in einer Schockstarre zu verweilen, spürten ich und viele von uns, dass es die lang ersehnte Gelegenheit für einen Neuanfang war. Es war, als hätte jemand die Stopptaste unserer Welt gedrückt. Als ich aus meinem Fenster schaute, sah ich keine Autos mehr, sondern spielende Kinder. Statt Abgasen atmete ich frische, klare Frühlingsluft ein. Denn in dieser Zeit der Stille wurde nicht nur die Luft klarer, sondern auch unsere Gedanken. „Was war uns wirklich wichtig im Leben?“

Kein business as usual mehr

Einfach wieder auf “Play” zu drücken und das überhitzte System wieder anwerfen, war keine Option. Wir begannen ein neues Kapitel in unserer Geschichte.

Wir sahen, wie vermeintlich Unmögliches möglich wurde. Noch wenige Monate zuvor wurde der laute Aufschrei meiner Generation nach mehr Klimaschutz und mehr Nachhaltigkeit von den Politikerinnen und Politikern müde belächelt und mit wenig wirksamen Maßnahmen beantwortet. Nun zeigte sich, dass die früheren Ausreden für eine nachhaltige Zukunft und Glaubenssätze bezüglich dessen, was alles nicht ginge, für nichtig erklärt werden konnte.

Man sagt, die Krise zeige den wahren Charakter. Diese Krise zeigte, dass das Gute überwiegte, sie zeigte wie wir Menschen uns gegenseitig halfen, zusammenhielten, uns Mut machten und aufheiterten. Auf dem Bürgersteig las ich jeden Morgen den Witz des Tages, in den Fenstern hingen von Kindern gemalte Regenbogenbilder, im Bus klatschten die Passagiere für den Busfahrer und für unsere älteren Nachbarn gingen wir Jüngeren einkaufen.

Der lang ersehnte Wandel war gekommen

Mit der Kraft der vielen Menschen, die sich nach einer positiven und sicheren Zukunft sehnten, konnten wir zeigen, dass eine krisensichere Zukunft gleichzeitig eine nachhaltige Zukunft ist. Und was zunächst wie ein kurzfristiges Hilfsprogramm aussah, wurde allmählich zum Trend: Wir halfen den benachbarten Bauern bei der Ernte, stellten fehlende Produkte wieder selber her, Unternehmen bezogen ihre Materialien und Ressourcen aus benachbarten Regionen…kurzum: wir re-lokalisierten unsere Wertschöpfungsketten, erzeugten Vertrauen und Identität, entdeckten lokale Pflanzenarten und traditionelles Wissen wieder und erschufen eine resiliente und nachhaltige lokale Wertschöpfung.

Die Regierungen gaben in diesen Tagen sehr viel Geld aus, um der Wirtschaft mit Konjunkturpaketen schnell auf die Beine zu helfen. Das war die lang ersehnte Chance, diese Milliarden an Euros und Dollars an zukunftsfähige, also nachhaltige Kriterien zu knüpfen und so den Unternehmen zu helfen, alte uns schädliche Wege und Abhängigkeiten zu verlassen. Denn nachhaltiges Investment zeigte sich als krisensicheres und zukunftsfähiges Investment.

Nachaltig investieren wurde salonfähig

Doch diese Sichtweise war keine Selbstverständlichkeit. Könnt ihr euch vorstellen, dass viele Politiker den Umweltschutz gegen die Wirtschaftsförderung ausspielten, anstatt sie zusammenzudenken? Sie rieten zum Beispiel zum Aufschieben des damaligen notwendigen Kohleausstiegs oder des Europäischen Green Deals. Am Ende und mit viel Nachdruck aus der Bevölkerung entschieden sich die gewählten Volksvertreter und -vertreterinnen für den logischen Weg: Nachhaltige Investitionen, zum Beispiel in erneuerbare Energiesysteme, erzielten nämlich einen doppelten Effekt, sie stimulierten die Wirtschaft und beschleunigten den Ausbau der nachhaltigen Energieversorgung.

Der Blick fürs Wesentliche schärfte sich

Das Virus hatte neben dem vielen Leid, das es uns brachte, den Verdienst, dass Überflüssiges entfernt wurde und das Essentielle ins Zentrum rückte. Wir wertschätzten, was uns zu lange unwichtig erschienen war: Gemeinschaftlichkeit, Nachbarschaftshilfe und ehrliche Fürsorge. Wir sehnten uns nach Bewegung und Erholung in der Natur. Wir merkten, dass die vielen Geschäftsreisen auch digital ersetzt werden konnten. Wir merkten, dass wir in unserem Leben den falschen Dingen Priorität und Wertschätzung gegeben hatten und überlegten gemeinsam, wie wir das in unserer Gesellschaft korrigieren konnten.

Als UN-Jugenddelegierte für nachhaltige Entwicklung war Rebecca Freitag überall auf der ganzen Welt im Einsatz © Kristoffer Schwetje Photography

Ideen wie verkürzte Arbeitszeiten, das bedingungslose Grundeinkommen oder Kreislaufwirtschaft stießen auf offene Ohren, statt des BIP lieber einen Beitrag zum Wohlergehen für Gesellschaft und Planet zu messen, wurde gefordert.

Wie ihr seht, war der Weg in die neue nachhaltige Welt, die euer Leben ermöglicht, kein Spaziergang. Zum Glück gab es so viele mutige, engagierte und positive Menschen, die nie aufhörten an die Zukunft der Menschheit, zu glauben. Schon einige Jahrzehnte zuvor sah die Generation meiner Eltern durch den Fall der Berliner Mauer, dass viele kleine Veränderungen einen tiefgreifenden Wandel hervorbringen konnten.

Auf in eine nachhaltige Welt!

In diesem Geiste haben wir die Krise als Chance für den Neuanfang in eine nachhaltige Welt genutzt. Die Welt, in der ich heute meine grauen Haare, Lachfältchen und glücklichen Enkelkinder beobachte. Die neue Welt, in der der Planet und wir Menschen gesund sind.

Ich wünsche mir von euch, dass ihr unser heutiges gutes Leben nicht für selbstverständlich betrachtet und an einer Zukunft arbeitet, die auch euren Enkelkindern ein gutes Leben bescheren wird.

In Liebe, Eure Mutter und Großmutter Rebecca

Wir danken Rebecca Freitag für diesen Gastbeitrag.