Laut schnaubend und mit gesenkten Hörnern steht keine 100 Meter entfernt ein riesiges Rind mitten im Wald. Neben ihm sind noch weitere Artgenossen zu entdecken, deren zotteliges braunes Fell zwischen den Baumstämmen hervor- schaut. Wer genauer hinsieht, erkennt: Das sind keine normalen Kühe, sondern Bisons. Kein Zaun, keine Tränke weit und breit, die mächtigen Pflanzenfresser laufen hier völlig frei herum. So, wie man es aus dem Yellowstone-Nationalpark kennt.

Wir befinden uns aber nicht etwa in den USA, sondern ein paar Kilometer östlich der polnischen Stadt Stettin nahe der deutschen Grenze. Hier grast eine Herde Wisente – die europäische Variante des Bisons. Sie gedeiht prächtig und breitet sich aus. Ulrich Stöcker, Naturschutzexperte der Deutschen Umwelthilfe, ist sich sicher:

„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einige der Wisente über die Oder nach Deutschland schwimmen, um sich dort niederzulassen."
©Svetoslav Spasov

Wilde Wisente im Oder-Delta

Wilde Wisente auf deutschem Gebiet – das hat es zuletzt irgendwann im 15. Jahrhundert gegeben, als Jäger die Letzten ihrer Art erschossen. Die kleinen Gruppen, die schon jetzt wieder durch unsere Wälder streifen, sind halbwilde, im Rahmen von Wiederansiedlungen gezielt dort ausgesetzte Tiere. An der Oder könnten sie erstmals von selbst wieder einwandern. Die besonderen Umstände im Deltagebiet machen es möglich.

Das Oder-Delta ist eine von neun sogenannten Rewilding-Regionen in Europa. Die Initiative Rewilding Europe wurde vor zehn Jahren von Vertreterinnen und Vertretern mehrerer Naturschutzorganisationen in den Niederlanden gegründet, mit dem Ziel, wieder mehr Wildnis in Europa zu schaffen. „Wenn wir bis 2030 und darüber hinaus schauen“, sagt Geschäftsführer FransSchepers, „dann gibt es nur einen Weg für eine gesunde und nachhaltige Zukunft in Europa:

Wir müssen auf dem gesamten Planeten große Gebiete durch Rewilding wieder in einen natürlichen Zustand zurückzuführen.“

Dort, so der Fachmann, müsse sich der Mensch zurücknehmen und die Natur wieder sich selbst überlassen.

Der englische Begriff „Rewilding“ meint dabei nicht nur die Renaturierung. Es geht auch darum, ein neues Bewusstsein für Wildnis und neue wirtschaftliche Perspektiven im Einklang mit ihr zu schaffen. Die moderne Gesellschaft soll sich wieder mit der Natur versöhnen.

Die Forschung gibt der Initiative recht: Eine Studie von Experten um Néstor Fernández vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig hat vergangenes Jahr gezeigt, dass wir bis 2030 mindestens 20 Prozent der degradierten Flächen in Deutschland – dazu gehören aufgegebene Ackerflächen und Industriebrachen – renaturieren müssen, um unsere Ziele in Sachen Klimaschutz und Erhalt der Artenvielfalt zu erreichen.

Intakte Ökosysteme für Artenvielfalt

„Intakte Ökosysteme wirken effektiv gegen Artenschwund und Klimakrise“, sagt Fernández. „Sie bieten neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen, produzieren saubere Luft, sauberes Wasser, fruchtbare Böden. Sie binden Kohlenstoff, schützen vor Hochwasser und anderen Klimaextremen und fördern die psychische und körperliche Gesundheit.“

©Staffan Widstrand

Das Oder-Delta zeigt, wie das funktionieren kann: In der Region konnte sich im Schatten der jahrzehntelang streng bewachten Grenze zwischen Deutschland und Polen die Natur relativ unbehelligt entfalten. Nach der Wende haben Naturschützer aus beiden Ländern erreicht, dass große Teile des grenzübergreifend 450.000 Hektar großen Gebietes mit dem Stettiner Haff im Zentrum auch weiterhin der Natur vorbehalten blieben. 2012 gründeten die beteiligten Naturschutzorganisationen die Initiative „Rewilding Oder Delta”, 2015 wurde die Region von der europaweiten Initiative als achtes Rewilding-Gebiet offiziell anerkannt.

Moore für ein ökologisches Gleichgewicht

Es wurden Deiche und Dämme zurückgebaut und die Rückkehr insbesondere von Schlüsselarten wie Wisent, Elch und Biber gefördert, die einst die Landschaft wesentlich gestaltet haben, aber auch von großen Beutegreifern wie dem Wolf, der für das ursprüngliche natürliche Gleichgewicht eine große Rolle spielt. Außerdem werden trockengelegte Moore wiedervernässt.

In Gesprächen mit Landwirten, Schäfern und anderen Landnut- zern wird eruiert, ob diese ihr Land der Natur überlassen und stattdessen durch Tourismus ihr Geld verdienen können. „Wirtschaftliche Alternativen sind ein wichtiger Pfeiler von Rewilding“, sagt Ulrich Stöcker. „Es gibt inzwischen Fischer im Delta, die mit Wildnis-Beobachtungstouren mehr Geld verdienen als mit der Fischerei. Hotels tun sich zusammen, um ihren Gästen Delta-Safaris mit Solarbooten anzubieten – zum Beispiel, um die hier lebende größte Seeadlerpopulation der EU zu beobachten.“

Baumstamm am Ufer eines Sees mit  Knabberspuren vom Biber
Landschaftsgestaltung durch Biber im Oder-Delta ©Solvin Zankl/Rewilding Europe

Freie Bahn für wilde Tiere

Ähnlich läuft es in den anderen Rewilding-Gebieten, etwa im Donau-Delta in Rumänien, wo Pelikane, Störche und andere Wasservögel sich wieder vermehren. Oder in den italienischen Apenninen, wo der Marsische Braunbär sein Comeback feiert. Oder in Schwedisch-Lappland, wo die Flüsse von ihren Staumauern und Wehren befreit werden, damit der Lachs und andere wandernde Fischarten wieder freie Bahn haben.

Auerochsen im Freilichtlabor

Auch jenseits der Rewilding-Regionen werden Projekte durchgeführt und unterstützt. Zum Beispiel eines zur Rückzüchtung des Auerochsen im Freilichtlabor Lauresheim des Klosters Lorsch in Hessen. Ähnlich dem Wisent war der im frühen 17. Jahrhundert ausgestorbene Auerochse eine der Arten, die die ursprüngliche Landschaft Europas ganz wesentlich geprägt haben. Projektleiter Claus Kropp erklärt:

„Anders als das Wisent lebte der Auerochse vor allem in der offenen Landschaft und hielt diese frei von Bäumen."

Heutige Rinder können diese Aufgabe nicht mehr übernehmen. Sie sind an das Leben in der Wildnis nicht mehr angepasst, wären zum Beispiel für Wölfe allzu leichte Beute. Daher wurden für das Projekt fünf Rassen aus ganz Europa, die dem Urrind genetisch und äußerlich noch recht ähneln, rekrutiert, um den Auerochsen rückzuzüchten.

In rund 20 Jahren wollen die Züchter ihn auf geeigneten Wildnisflächen aussetzen, so dass er wie das Wisent frei umherstreifen und dort die ureuropäische Landschaft wiederherstellen kann.

Mehr Rewildingebiet und Wildniskorridore

Über rund 23.000 Quadratkilometer – das ist etwa die Fläche Mecklenburg-Vorpommerns – erstrecken sich die Rewilding-Gebiete schon heute. Der Plan ist, dass weitere Flächen hinzukommen und sie zudem durch Wildniskorridore verbunden werden, sodass die Tierpopulationen sich genetisch austauschen können.

Auch der Mensch braucht Ökosysteme

Die Initiative passt perfekt in die für die 2020er-Jahre ausgerufene UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen. Und sie kommt einer tief in den meisten Menschen wohnenden Sehnsucht nach, die der 2020 verstorbene Schweizer Philosoph Markus Huppenbauer formulierte: „In einer durchtechnisierten, modernen Welt suchen wir in der Natur Wildheit, Ursprünglichkeit und Spontanität.“

Mitmachen:

Mehr über ein wilderes Europa erfahren: Rewilding Europe und Rewilding Oder-Delta  

Headerbild: © Marcin Budniak